LYRIK

 LYRIK

Von Valancina Aksak
Übersetzung: Christine Hengevoss

 

Vor dem Ende der Welt

Am Tag
als der dritte
Weltkrieg begann,
machte mich
ein bekannter Meister
für Reparaturen des Sichtvermögens
wieder sehend.
Seit jenem Treffen
mit dem Zauberer
des Lasers und Skalpells
denke ich nach
über die Sinnlosigkeit
des medizinischen Erfolgs.
Wozu noch
die Farben des Himmels,
dem  so plötzlich
der Regenbogen abhanden kam!
Heute endlich habe ich begriffen
dass die geschickten Hände
jenes Asklepios des Augenlichts
mir die Chance gegeben haben,
das Ende
dieser
finsteren
Welt
zu erblicken.

Schabbat

Samstag.
Schabbat.
Reglos der erstarrte Himmel.
Endlose Scharen grauer Krähen
verstummt bei den Mülltonnen.
Reihen moosbewachsener Baumstümpfe
als Begleitschutz
entlang der zerfurchten Wege.
Endlich Stille.
Schabbat.
Die Maschinengewehrsalven erstorben.
Die Krater der Panzer erstarrt.
Die Bomben in den Schlamm gerollt
So dachte ich beglückt,
als ich aus dem Fenster sah.
Ich hatte vergessen,
dass ich,  gerade erst aufgewacht,
meine Ohrstöpsel noch nicht
herausgenommen hatte.

Weiße Vögel

Morgens in der eigenen Wohnung
aufwachen,
draußen vorm Fenster
weiße Vögel erblicken,
die es geschafft haben,
den Bomben und Schützen auszuweichen
und die Grenzen wohlbehalten zu überqueren
im schwarzen Rauch.
Wieder zu Atem gekommen,
teilen sie laut krächzend mit
wie sie an Mariä Verkündigung
ihre Nester erneuern
und beginnen werden,
Junge auszubrüten,
und wie diese dann,
bestrahlt
von der gelbe Sonne,
mit dem Blau des Himmels
davonfliegen werden
in warme Länder.
Und wie sie zurückkehren werden
in ihr
Weißes Land.

Neun Vögel

Heute empfingen mich
wieder
neun weiße
sanfte Vögel.
Sie saßen nebeneinander,
sahen mich vertrauensvoll
mit blauen Pupillen an,
verfolgten jede
meiner Bewegungen
wie Säuglinge, die von der Wiege aus
mit den Augen die Stimmung der Mütter erspüren.
Kugeln und Bomben
sind als schwerer Traum
zwanzig Flugstunden weiter südlich
zurückgeblieben,
während derer sich die Reihe
der Rückkehrwilligen
um die Hälfte lichtete,
so dass sie in diesem Frühjahr
Wunder vollbringen müssen.
Damit in jedem Nest
für alle Ungeborenen ihrer Lieben
Küken großwerden
und die hiesigen
Lieder lernen.
Damit es
wenigstens
neun Vögel
sind..

Die jungen Schwalben

Heute sind die Schwalbenjungen ausgeflogen
hervor unter dem schützenden Dach .
Sie zwitschern fröhlich
und ziehen erste Kreise
um die gemütliche Hütte.
Staunend schauen sie
auf den blauen Horizont
und zerschneiden entschlossen
die heitere Landschaft,
um möglichst schnell hochzufliegen
zu den flauschigen Wolken.
Noch wissen sie nicht
dass jeder neue Schlag
der freien Flügel
sie der Welt
der Falken und Raben
näherbringt.
Dort oben
in den wolkigen Höhen
lauern sie schon darauf,
dass die Kleinen
sich mutig
entfernen
vom heimischen Nest.

Flucht aus Polesien [1]

Sumpf, Moorweiden, Erlen und Binsen.
Auf den Bülten schwarze Hüttchen,
zu denen niemand durchdringt,
ohnevielleicht
in Torflöcher zu geraten.
Verzeih, Onkel Kolas[2]
mir ist dein Winkel in den Sümpfen
keine Heimat.
Auch du, Onkel Melesh, verzeih,
ich bin keine Tochter
der Menschen Im Sumpf[3].
Ich flechte Schuhwerk aus Weidenruten,
lege Sumpfporst auf den Knüppeldamm
und setze meinen blinden Schritte,
die Mückenwolken zu durchdringen.
So manchen Tag wandere ich,
um mich die immer selben Moorweiden
vor mir der immer selbe
vom Schicksal gezeichnete Weidenbaum;
die betäubende Ohnmacht Immer drückender ,
kein Obdach weit und breit,
und in Polesiens Höhen
funkeln anstelle der Sterne
die Augen der Wölfe.

[1]Sumpf- und waldreiche Gegend , überwiegend in Belarus und der Ukraine
[1] Jakub Kolas, belarussischer Dichter
[1] „Menschen im Supf“: Roman des belarussischen Schriftstellers Iwan Melesh

Liebe in Zeiten des Krieges

Ich stürzte, warf mich
vor Schmerz und Verzweiflung
in den Eissturm des Schicksals,
ergab mich meinem Los.
Ich dachte
meine Wunden
seien größer als alles in der Welt,
glaubte,
mein Schmerz
sei ein Höllenfeuer.
Doch es zeigte sich,
das es anderen schlimmer ergeht,
denn sie haben niemanden mehr,
den sie verlassen können,
es gibt kein Paradies mehr
für die Verzweifelten,
nicht einmal eine Hölle
gibt es noch.
Nur den Krieg,
der keine Trauer kennt
keinen Kummer,
wo auch tiefe Wunden
überhaupt nicht wehtun.
In seinem Inferno verbrennen
Begegnungen und Abschiede,
auf den Brandstätten aber
blühen Blumen.

Die Rose im Rucksack

Im Bahnhofsgedränge
fiel mein Blick auf eine Rose,
sie ragte
aus einem schmierigen Rucksack,
in den der Blumentopf
mit dem verwunderten Blümchen
kaum hineinpasste.
Ihr Köpfchen schwankte hin und her
im Takt der schiefgetretenen Schuhe,
erstarrte auf dem Bahnsteig,
als sie plötzlich begriff,
dass sie jetzt für immer
in diesem Rucksack leben würde,
denn sie würde für immer
eine Vagabundin sein.

Johanniskraut

Als die bleischwere Sonne
sich auf den Turmspitzen
von Balmoral Castle
entlanghangelt,
brühe ich mir einen Johanniskrauttee auf
und genieße das heilsame Getränk
solange, bis
eine alter Freund
in die leere Tasse guckt
und spöttisch fragt,
ob das Mittel gegen den chronischen Kummer
geholfen habe.
Er macht sich
noch ein wenig lustig
und holt
aus dem holzwurmzerfressenen Schrank
einen Ballantine’s,
gießt uns beiden ein und sagt,
dass wir uns in Schottland
die am Neman gesammelten
sanften Heilkräuter
abgewöhnen
und unser Inneres
gewöhnen sollten
an das harte aqua vitae von den Ufern
des kalten Dee.

Die Dahlien sterben

Sonnenaufgang. Regen
verdünnt meinen Kaffeesatz,
mit dem ich die Dahlien
tränken will,
die, ausgemergelt vom Durst,
umkommen.
ich koche einen Liter Kaffee
in der Stempelkanne
gieße mir ein
und versinke im Spinnennetz der Nachrichten.
Aus dem Netz
blickt mich
ein bärtiger Recke an,
der nie, niemals
sehen wird,
wie im unbekannten Chutor
die Dahlien sterben.
Die Hausherrin
hatte es nicht geschafft, jenem Recken
über der heißen Asche ihres abgebrannten Hauses
den belebenden Aufguss zu bereiten.
Ein wildgewordener Panzer
war schneller.

Nacht

In Malewitschs schwarzem Quadrat
blinken Myriaden von für Blinde
sichtbaren Sternschnuppen.
Der im Original nicht vorhandene Rahmen
ist hier mit einer Zange
an allen vier Ecken angeknipst.
Ruinen, die irgendwann einmal
Keilrahmen waren,
umsäumen den schwarzen Kreis,
den der weiße nicht
übertreten kann.
Das Quadrat
schiebt sich über den Kreis
und die Kuppel
wird zum Kreuz.
Die Leere
beidseits der Querrahmen
erkaltet zum Anthrazit.
Suprematismus.
Der höchste Punkt.
Nägel statt Sterne.
Nacht.

Ohne Wunder

Lieber Santa Claus,
falls du in deinem Sack
nichts anderes hast
als diese rosafarbenen
Bonbons,
brauchst du gar nicht erst
bei uns zu erscheinen.<
Meine Schwester und ich
mögen kein Süßes.
Du sagst,
die Pfefferkuchen seien mit Ingwer
ohne Zucker und Orangeat.
Die essen wir auch nicht,
weil es keine Gaben<
aus unserem Garten sind.
Bist du jetzt gekränkt?<
Weil es so eigensinnige Kinder gibt<
auf dieser Welt?
Hör mal,
an deine Wunder
glauben  wir
sowieso
überhaupt nicht mehr.
Und du selbst
bist ja scheinbar
auch nicht echt.
Der echte heilige Santa Claus
hätte uns nämlich heute
in seinem großen Sack
unseren Papa gebracht.
Da staunst du, was?
Dann mal tschüß,
geh und halte andere Kinder zum Narren,
deren Papa
sie zärtlich drückt,
statt elend auf der
kalten harten
Gefängnisliege
herumzuliegen.

Trost

Im Netz gefangen
auf fremdem Balkon<
ist das einzige, was ich habe,
ein  fleckiger Himmel.
Ich tröste mich<
mit unerträglicher Verzweiflung
und hilflosem Mit-Leiden
mit all jenen,
die zu dieser schweren Stunde
nur ein Randstück der Sonne
durchs  Gitter erspähen.

Auf  Zuwachs

Abend. Schneesturm
fegt Streit und Vorwürfe
in die Schneewehen.
Aus den Wolken löst sich
der zierliche junge Mond
kommt herab in meinen Garten
nimmt Platz
gleich einem scheuen Liebhaber
in einiger Entfernung
flüstert:
Lächle allem zu,
allem um dich herum:
morgen siehst du es schon
nicht mehr.
Lebe wie ich.
Auf Zuwachs.