LYRIK
Von Raman Abramchuk
Übersetzung: Christine Hengevoss
***
und zu denen im Keller des sowjetischen MWD
wohin kein Ave Maria dringt und kein
Handyton
kommt am dritten Tag die Emdewé-Fee
im Gummiknüppeldiadem
verteilt die Brotration
ruft die Angehörigen an
teilt den Ort mit
wischt sich eine Träne und verspricht ihnen
dass sie
nicht mehr als
15 Tage kriegen
14.10.2020 Isolationszentrum Okrestina
Telegram-Chat
In jeder diffusen Situation mach eine Chatgroup auf
Füg alle hinzu, bis auf den einen, suspekten. Wir klären später, wer Freund ist und wer nicht
Die Treffen irgendwann einmal vereinbare an der Stella, auch wenn dort ein Geheimer herumsteht
Das macht es sogar einfacher, auch ohne Stadtplan – du musst nur einen Bogen um alles Schwarze machen
Zur Begrüßung zeig das V wie Victory, zum Abschied das Herz oder die Faust
Deine Töchter nenne Sweta und Mascha, die Söhne Stjopa und Pascha oder so
Und wenn du ihnen Märchen vorliest, erzähle, dass es Ritter gibt und dass es Büttel gibt
Aber denk dran: das Beste in der Geschichte bist du
ist deine Fähigkeit, bei unter Null auf das Eis zu pusten
und nicht
zu erfrieren
Für R. Bandarenko
Null Promille Alkohol im Blut
hundert Tapferkeit, null Wankelmut
es heißt, dass Helden niemals sterben
doch warum bleiben dann die Augen feucht
Relokation
bei den IT-lern heißt es Relokation,
bei mir nur elende Flucht
durch Pfützen, Dreck und Schnee in Kamenny Loh
mit Taschen bepackt, eine sperriger als die andere
***
– hallo, wie bist du untergekommen? was zahlt man so fürs Wohnen?
– grüß dich, geht so, haben ein Häuschen gemietet, nur der Kamin macht Probleme
– wow, Belarus lebt noch, klasse
– genau, wir geben uns nicht verloren, pass auf dich auf
***
Wir kommen wieder, ganz sicher
Früher oder später
Aus all den Kyiws, Posnans, Daugavpils‘
die, die sich nicht dem Suff ergeben haben
die nie Warmgewordenen an fremden Herden
die nicht Untergekommenen
und die,
die wie an einer Bahnstation
sich einen Kaffee holten, die neueste Zeitung lasen
(wann werden die endlich gestürzt)
die im Orbit kreisten
die Schwatzhaften so wie ich
die sich höchstens mal mit der Zunge verhaken
aber klar spüren, dass alles abwärts fließt
nach Hause
11.03.21
***
als ich ausreiste
versteckte ich meinen Gesang im Koffer ganz unten
stopfte meine Fremdsprachen in die Jackentaschen
Ausweise und Papiere in die Socken
vergaß flink meine Lieblingsorte
entfernte Nummern und Korrespondenzen
verschleierte mein Lächeln
verschluckte die Kennwörter
löschte meine Namen aus dem Antlitz
die Grenzschützerin aber sah sich den Pass an,
drückte den Ausreisestempel hinein
und fragte
nichts
Für Maksim Snak, Maryja Kalesnikawa, den Stab Wiktar Babarykas
Wir versteckten die Dateien einfach in den Wolken
Im Grunde da, wo auch unsere Träume sind
Ihr hättet besser daran getan, aus dem Büro
Den Müll rauszutragen als die Technik
Und dann haben wir dort noch
Unsre Geheimwaffe versteckt
Die Melodie der Zauberflöte fließen lassen
und ihr müsst jetzt leben unter dem Gewitterregen
unsrer Dateien, Träume und Noten
Für die Teilnehmer des Stadtgebietsmarsches am 12.04.2021
nun gut, mal ehrlich
es gibt überhaupt keine Westfront
und keinen Kursker Bogen im Osten
Es gibt nur dich und deine wütende Schwäche
und den Urin der von allein fließt<
wenn du lange mit dem Gesicht zur Wand stehst im MWD
… Weißt du noch diese lausige Skiwanderung
am Stadtrand von Minsk
als du ewig nach einem Weg suchtest
zwischen den endlosen Umzäunungen
der Sommerresidenzenklaven
bis du die Nase voll hattest und drüberstiegst<
und irgendwessen Spielregeln missachtetest
und das Spiel seinen Lauf nahm
aber wenigstens hattest du einen Adrenalinstoß
wenigstens kamst du da raus wo du wolltest
von da war es nur
ein Katzensprung
nach Haus
Für Jahor Marcinovič
Journalismus in Belarus ist heute
das Video, das du, hinterm Trafohäuschen<
versteckt, aufgenommen hast
ist die regelmäßig an die „Augen von Minsk“
gelieferte Info über die Bullen
ist der Telegram Chat
an dem dein gesamtes extremistisches
Haus, die Nachbarn, der Garten teilhaben
ist jetzt nicht mehr Ich-Wir sind Marcinovič
jetzt hast du sein Notebook
rag nicht lange<
Setz dich hin, schreib!
Für Witold Aschurak
zu viele die, derer wir gedenken,
zu viele für Erinnerung, Zeit und Papier
Herr, wenn du kannst, erlöse uns<
wenn nicht, schweig wenigstens nicht
wir ersticken an all dem Leid
können es nicht mehr schlucken
hast uns aus dem Paradies vertrieben
doch wofür diese Unsegnungen des Lagers
Herr erhebe dich gieße Unheil über die Mächte der Erde
Wir waren das Salz, jetzt sind wir verstreut
Bitte sammle uns auf!
Weihnachten 666
Gott hat verloren
überall sind Untote
Untote auf den Straßen
Untote auf den Festplätzen
unterm Weihnachtsbaum
in Spelunken
In Häusern und Gotteshäusern
Untote nur Untote
In mir schneiden
die Untoten Grimassen
fluchen und lästern Gott
vernageln die Fenster
Halt
sage ich zu
den Untoten
Ich gebrauche Gewalt
stoße die dreisten Spitzohren
hinaus
und sie verschwinden
Ich stelle das Altarlämpchen im Fenster richtig hin
und bleibe allein zurück
am Fenster
Stille
Gott
Ostern an der Stella
Wieso reden eigentlich alle vom Tag
wir kommen nachts zurück als sei es die Osternacht<
drängen aus den Flugzeugen wie aus Kirchen
versinken im Glockenspiel der Küsse und Tränen
eilen Magdalenen gleich mit Kerzen zu den Haftanstalten<
und Untersuchungsgefängnissen
um die Begrabenen zum Leben zu erwecken
wir gehen durch die Mauern, ertasten ihre Rippen, setzen sie an einen Tisch
bei der Stella
Roman und Witold werden dort sitzen mit Blumenkränzen auf den Köpfen<
und Aliaksandr mit einer Blume am Revers
…
und langsam schwinden die Schatten
der am Tisch Sitzenden
dahin
***
Du schraubst dein Fahrrad noch immer
an null neun/ null acht/ zwanzig
So fest an der Heimat
selbst eine Emigration zum Mars würde nicht helfen
Das Datum festgeschraubt bis in den Kern des Großhirns
Wir haben, so scheint es, nicht verloren,
doch warum führen Orks bei uns die Gottesdienste durch
Ich schreibe an Szjapan und Max
verschicke den Brief per Boten …
Abgeschraubt das Rad
die Plejaden erleuchten
den Weg nach Hause
09.08.2022