Briefe an Maryja Kalesnikawa, Juni 2022
Von AU
Übersetzung: Lydia Nagel
03.07.2022
Liebe Mascha, ich frage mich, ob Sie seit Januar wenigstens einen meiner Briefe oder Postkarten erhalten haben. Im Juni habe ich 15 verschickt, meist werden es auch mehr. Heute, am 3. Juli, gab es einen sehr heftigen Platzregen, die Natur war wahrscheinlich froh darüber. Ich lese und sehe in den Nachrichten, dass Straßen in Minsk überflutet wurden und die Menschen sogar auf der Fahrbahn geschwommen sind. Auf den Konzertplätzen sind nur wenige Menschen. Niemand wirkt besonders fröhlich. Vielleicht liegt das auch an der Schwüle. Tagsüber waren es fast 30 Grad im Schatten. Ich habe fast nichts von dem Feuerwerk gehört, als es dunkel wurde.
Bei dieser Hitze möchte ich vor allem schlafen, ich schlafe jetzt jeden Tag auch tagsüber eine oder anderthalb Stunden. Mein Kopf wird nur klar, wenn ich dusche oder mir kaltes Wasser über den Kopf laufen lasse, aber das kann man ja auch nicht endlos lange machen. Ich frage mich, wie Sie mit all dem klarkommen …
Mascha, wahrscheinlich kann man im Gefängnis schnell einem Gefühl der Entmutigung erliegen, obwohl Sie natürlich ein starker Mensch sind. Aber trotzdem sollen Sie wissen, dass wir täglich an Sie denken und auf Sie warten.
Ich hoffe, dass Sie wenigstens einige meiner Briefe erreichen werden. Aber selbst wenn nicht, bleibt ein Archiv in Kopie erhalten.
Umarmung, A.
06.07.2022
Liebe Mascha, heute ist ein wunderbarer Sommertag, so fühlt es sich an. Es ist nicht mehr heiß und der Regen hat aufgehört. Nur der Mensch verdirbt alles, aber die Natur hat uns einen Sommer reinen Glücks beschert. Ich laufe zu Hause in Shorts rum, und ich habe gern zu Hause gearbeitet, und dann hatte ich noch die Kraft, in die Bibliothek zu gehen, um mein Manuskript Korrektur zu lesen. Für mich ist das die beste Sommerbeschäftigung. Gerade passieren viele schlimme Dinge, aber heute schaffe ich es trotzdem, das Leben zu genießen, weil das Wetter schön ist, der Sommerabend hell ist, es so viele Bäume gibt, dass die Blätter rauschen und das Haus gegenüber verdecken und man sich fühlt wie in einem Sommerhaus, weil die Tischlampe so gemütlich leuchtet und ich nicht müde bin, sondern im Gegenteil einen klaren Kopf habe.
Gerade können viele aufgrund der Umstände nicht glücklich sein, viele schämen sich, auch ohne Umstände. Schämen sich, in Sicherheit zu sein, schämen sich, frei zu sein, zu gehen und zu bleiben. Viele machen sich Sorgen. Ich bin froh, dass es mir heute gut geht, da stimme ich Ihnen zu, wir leben unser einziges Leben und wir müssen es schaffen, darin glücklich zu sein.
Ich hoffe, dass Sie es schaffen, in Homel Freude zu empfinden, möge alles für Sie so gut wie möglich werden, Mascha.
Es ist sehr schade, dass unsere Briefe nicht ankommen, aber hoffentlich bald
24.07.2022
Liebe Mascha, jetzt wo ich seltener Briefe abschicke, weil ich weiß, dass sie nicht weitergeleitet werden, schreibe ich auch seltener … Aber ich denke an Sie und frage mich, wie es Ihnen geht. Ich glaube, dass fast das ganze Land und auch diejenigen, die im Ausland sind, nur auf eines warten. Darauf, dass die politischen Gefangenen freigelassen werden und alle zurückkehren und in einem freien Land leben können, frei und ruhig atmen und sich keine Sorgen über die jetzt überall herrschende Gewalt machen müssen. In dieser Erwartung lebe ich.
Heute habe ich mir noch mal einen kleinen Ausschnitt aus einem Radiointerview mit Ihnen angehört, ich glaube, es war Ihr erstes. Sie haben dort so gut und aufrichtig geredet. Es tut weh, Videos und Fotos aus dem Jahr 2020 anzusehen. Ich wünsche mir so sehr, dass die schlechten Zeiten für Sie und für uns alle so schnell wie möglich vorbeigehen.
Mascha, ich wünsche Ihnen Kraft, Gesundheit, gute Laune und dass Sie so schnell wie möglich freikommen. Ich weiß, dass Sie dort allein durch Ihr Dasein dazu beitragen, dass es allen besser geht.
Feste Umarmung, A.
27.07.2022
Liebe Mascha, ich überlege, wie viel Zeit seit Januar vergangen ist, als Sie „umgezogen“ sind. Ich war nicht nur wegen dieser Tatsache an sich besorgt, sondern auch, weil Sie in eine andere Stadt gebracht wurden. Und ich habe geweint, als ich Ihren Brief vor der Kolonie erhielt. Als wäre es hier leer geworden. Und jetzt müssen wir auch noch die Leere ertragen. Und sie lassen einen nicht mal Briefe schreiben, lassen die Briefe nicht ankommen, quälen die Menschen noch extra, als ob das Leben von irgendwem dadurch besser würde. Aber von wem? Ich verstehe diejenigen nicht, die bereit sind, ihr Leben zu leben, ohne irgendetwas Gutes und Sinnvolles zu tun, die ihr einziges kostbares Leben damit verbringen, Schlechtes zu tun. Es ist doch schrecklich, nicht nur andere, sondern auch sich selbst nicht zu lieben und das eigene Leben kaputt zu machen. Solche Leute können einem nur leidtun. Obwohl, vielleicht sind sie so simpel programmiert, dass sie es gar nicht merken?
Als Sie verlegt wurden, haben Sie noch eine Nachricht an die Medien übermittelt, wie man die Inhaftierung von Angehörigen und allen politischen Gefangenen verkraften kann. Und dann habe ich wieder geweint 🙂 Auf dem Istanbuler Flughafen! Als ich auf den Flug nach Minsk gewartet habe. Auch deswegen. Ich saß dort im Food Court im Obergeschoss. Da gibt es so einen langen Balkontisch mit Steckdosen. Und da habe ich Musik gehört und geweint. Ich hoffe, niemand hat das gesehen!) Jetzt weine ich auch. Vor kurzem haben ein Freund und ich darüber geredet, wie uns nach dem 24. Februar dieses Jahres klar wurde, dass die Welt größtenteils immer noch nicht weiß, wie Belarus seit dem Herbst 2020 lebt, mit welchem Trauma und in welcher Angst. Und wie dieses Trauma nach dem 24. Februar 2022 im Vergleich zu dem, was in unserem Nachbarland begann, annulliert wurde. Aber letztendlich ist unsere traumatische Situation ja nicht verschwunden. Und damit müssen wir leben.
Neulich habe ich von Ihren Bedingungen in der Kolonie gelesen, das alles wusste ich natürlich auch vorher schon. Ich kann Ihnen nur Kraft wünschen, all das zu ertragen.
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Ich schreibe am nächsten Tag zu Ende. Mensch, das ist jetzt ein trauriger Brief geworden, obwohl ich natürlich fröhlichere schreiben möchte. Und heute ist das Wetter großartig und der Himmel ist strahlend blau, ich hoffe Sie sehen ihn. Ich umarme Sie fest, Mascha. Hoffentlich werden Sie und alle anderen bald freigelassen. Ich warte sehr darauf.
31.07.2022
Liebe Mascha, ich wüsste gern, wie es Ihnen geht. Aber seit einem halben Jahr gibt es keine einzige Nachricht. Und trotzdem hoffe ich sehr, dass wir uns bald wiedersehen Wirklich sehr bald Wenn Sie und alle anderen doch nur bald entlassen werden.
Ich klebe eine seltene Briefmarke mit einer Blauracke auf den Umschlag. Vielleicht wird Ihnen mein Brief ja ihretwegen übergeben? Blauracken waren in Belarus mal weit verbreitete Vögel, so schön wie Tropenvögel, aber jetzt sind sie fast verschwunden.
Heute ist ein regnerischer Tag, es nieselt. Ich bin schon von einem Spaziergang zurück zu Hause. Wir sind mit Freundinnen nach Kurapaty gelaufen, das ist nicht weit von uns. Eigentlich hatten wir das gar nicht vor, aber irgendwie sind unsere Füße wie von selbst hingelaufen.
Dort muss man natürlich unwillkürlich daran denken, dass dort viele Menschen erschossen wurden, und man weiß nicht, wo sie überall liegen. Wie wurden sie zu ihrem Todesort gebracht, einzeln, in Gruppen? Aber jetzt ist es dort ruhig. Nur innerlich spannt sich etwas an, wie eine Saite. Denn nichts ist vorbei.
Zurück sind wir mit dem Trolleybus gefahren. Bei so einem Wetter möchte man eigentlich nur schlafen, ich spüre, dass ich weniger Energie habe, aber ich habe auch das Gefühl, dass das nur vorübergehend ist 🙂 Jetzt liege ich auf dem Bett, höre dem Regen vor dem Fenster zu und schreibe Ihnen einen Brief auf dem Telefon 🙂 Und dann kommt der Lieferdienst, meine Freundinnen und ich haben uns Essen bestellt, und dann will ich noch den Haushalt machen, ein bisschen bügeln.
Wo alles so unruhig ist (zusätzlich zu dem, was wir sowieso schon haben, werden in Serbien die Spannungen gegen Kosovo wieder größer, als wäre es nicht schon genug … China dreht seine Kreise um Taiwan), will man wenigstens in das direkte Umfeld etwas Ruhe bringen, um aufzutanken.
Wir warten sehr auf Sie. Ich glaube, wenn Sie rauskommen, dann wird alles gut
Feste Umarmung, A.